Migranten und Menschen mit Behinderungen: ein wichtiges Anliegen, aber fehlende Daten

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Wie viele Menschen mit Mitte 20 nutzt Nujeen Mustafa regelmäßig Instagram und Twitter. Aber im Gegensatz zu den meisten Gleichaltrigen hat sie gemeinsam mit einer international anerkannten Journalistin ein Buch verfasst, eine prestigeträchtige Auszeichnung für ihre Arbeit als Aktivistin erhalten und vor dem UN-Sicherheitsrat gesprochen.  

Nujeen, eine Geflüchtete mit kurdisch-syrischen Wurzeln ist eine wichtige Stimme für jugendliche Flüchtlinge und Menschen mit Behinderungen geworden. Nujeen kann ihre Lobbyarbeit mit ihrer eigenen bemerkenswerten Geschichte untermauern. Die mit Zerebralparese geborene Nujeen floh im Alter von 16 Jahren vor dem Syrischen Bürgerkrieg, legte 5‘600 Kilometer in einem Rollstuhl zurück, der von ihrer älteren Schwester geschoben wurde, bevor sie sich schließlich in Deutschland niederließ. Sie beeindruckte das Fernsehpublikum, als sie erzählte, dass sie dank der langjährigen amerikanischen Seifenoper Days of our Lives Englisch lernte.  

 

UN Photo/Loey Felipe - Nujeen Mustafa, wheelchair-bound Syrian refugee and advocate for refugee youth, addresses the Security Council meeting on the situation in Syria.

 

Aufgrund ihrer Lebensgeschichte setzt sich Nujeen für andere Menschen mit Behinderungen ein. Sie möchte aufzeigen, welche Bedürfnisse diese Gruppe hat und inwiefern sie zum gesellschaftlichen Leben beiträgt. In offiziellen Statistiken jedoch bleiben Nujeen und andere Migranten mit Behinderungen jedoch weitgehend unterrepräsentiert.

Lobbyarbeit für Menschen mit Behinderungen ist das ganze Jahr über erforderlich, aber am 3. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen, ist dies ein besonders wichtiges Anliegen. Wenn man sich für Menschen mit Behinderungen einsetzt, sollte darauf hingewiesen werden, dass zu dieser Gruppe auch Migranten mit Behinderungen gehören. Diesen Menschen wird nicht genügend Aufmerksamkeit zuteil. Oft sind sie unterrepräsentiert oder fehlen gänzlich in offiziellen Datensätzen. Wer für Menschen mit Behinderungen eintritt, sollte sich auch dafür stark machen, dass Daten zu dieser Gruppe erhoben und verwendet werden. Denn es gilt: Wer nicht gezählt wird, hat auch keine Stimme.  

Warum sind Migrationsdaten zu Behinderungen wichtig? 

Daten zu Migranten mit Behinderungen sind notwendig, um das politische Handeln in verschiedenen Bereichen (z.B. Migration) zu beeinflussen: 

  • Politische Entscheidungsträger auf nationaler und lokaler Ebene, Schulen, Stadtplanerinnen und Stadtplaner, Sozialdienste und diverse Dienstleister benötigen Daten über Menschen mit Behinderungen, da sie verschiedene Aufgaben erfüllen. Unter anderem müssen sie finanzielle Mittel für Menschen mit Behinderungen zuweisen oder Programme und Projekte im Bereich Migration entwickeln. Ferner geht es darum, behindertengerechte Konzepte voranzutreiben und angesichts der Größe dieser Personengruppe und der jeweiligen Behinderungen angemessene Vorkehrungen zu treffen.

     
  • Auch im Krisenfall sind Organisationen auf nationaler und lokaler Ebene auf Daten angewiesen, um solche Situationen erfolgreich bewältigen zu können. In einer Studie wurde festgestellt, dass sich die COVID-19-Pandemie unverhältnismäßig stark auf Menschen mit Behinderungen ausgewirkt hat. Die fehlende Datenerhebung in diesem Bereich stellt sich bei der Bewältigung der Pandemiefolgen als Hindernis für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen dar. Das betrifft auch Migranten mit Behinderungen.

     
  • Auch die internationale Staatengemeinschaft ist auf Daten angewiesen, die nach Behinderungen aufgeschlüsselt werden. Diese werden insbesondere für die 11 Nachhaltigkeitsindikatoren mit Bezug zu Behinderungen benötigt. Für mindestens 24 Nachhaltigkeitsindikatoren sind Daten zum Migrationsstatus notwendig, um die Fortschritte im Hinblick auf die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zu verfolgen.

     
  • Menschenrechtsaktivisten benötigen zudem Daten, um sicherzustellen, dass die Rechte von Migranten mit Behinderungen gemäß dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) geschützt werden.

     
  • Organisationen für Menschen mit Behinderungen sowie Organisationen im Bereich Migration nutzen Daten für eine faktengestützte Lobbyarbeit, um so Politik und Gesetzgebung beeinflussen zu können.  

Die Berücksichtigung von Menschen mit Behinderungen in Statistiken ist von grundlegender Bedeutung für die uneingeschränkte und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die „Sichtbarkeit“ in Statistiken kann Strategien, Praktiken und Programme zur Einbeziehung von Behinderungen nach sich ziehen, was zu qualitativ besseren Unterkünften und einem besseren Zugang zur Grundversorgung führen und Stigmatisierung oder Diskriminierung vorbeugen kann.  

Warum gibt es unzureichende Daten über Migranten mit Behinderungen? 

Wichtige Gründe: 

  • Es bestehen Unterschiede im Hinblick auf die Definitionen der Begriffe „Behinderung“ und „Migrant“: Die Art und Weise, in der ein Tool zur Datenerhebung den Begriff „Behinderung“ auslegt, hat direkten Einfluss darauf, wer als Mensch mit Behinderungen eingestuft wird. Sofern ein solches Tool den Begriff enger definiert und sich zum Beispiel auf körperliche, geistige, kognitive oder sensorische Beeinträchtigungen einer Person beschränkt, könnten weniger Menschen mit Behinderungen berücksichtigt werden. Wenn im Rahmen der Datenerhebung jedoch – wie auch im Fall der UN-Behindertenrechtskonvention – ein auf Rechten basierender Ansatz verfolgt wird, bedeutet dies, dass neben den Beeinträchtigungen einer Person auch die sozialen, physischen, kommunikativen und institutionellen Barrieren berücksichtigt werden, die Menschen an einer gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hindern. In einem solchen Fall werden potenziell weitere Menschen mit Behinderungen berücksichtigt. Gleichzeitig gibt es verschiedene Möglichkeiten, um festzulegen, wer unter den Begriff „Migrant“ fällt. In der Praxis werden Migranten in einigen Ländern unterschiedlich definiert, beispielsweise je nach Staatsangehörigkeit oder Geburtsland. Die Definition kann auch von der Aufenthaltsdauer (z.B. ein Jahr oder sechs Monate) abhängen. Dies führt dazu, dass die Daten in den Bereichen Behinderungen und Migration häufig nicht miteinander vergleichbar sind. Daten, die sich sowohl auf Behinderung als auch auf Migration beziehen, sind häufig noch weniger vergleichbar.

     
  • Die Instrumente im Zuge der Datenerhebung sind nicht behindertengerecht. Schwer erreichbare Migranten werden unter Umständen nicht berücksichtigt: Menschen mit Behinderungen können möglicherweise nicht an Befragungen teilnehmen, weil die Methoden bei der Datenerhebung nicht behindertengerecht sind. So kann es sein, dass keine Zeichensprache oder Blindenschrift angeboten wird. Die Teilnahme an Online-Umfragen kann ohne Bildschirmlesegeräte erschwert werden. Hinzu kommt, dass herkömmliche Methoden der Datenerhebung nicht zwangsläufig alle Migranten erreichen. So sind bestimmte Migrantengruppen wie irreguläre Migranten, Hausangestellte oder Grenzgänger aus verschiedenen Gründen oft nur schwer zu erreichen. Dies bedeutet, dass es noch schwieriger ist, Daten über bestimmte Gruppen von Migranten zu erheben, die möglicherweise auch eine Behinderung haben. Die gesellschaftliche Teilhabe von Migranten, die in amtlichen Daten unterrepräsentiert sind, wird in besonderem Maße beeinträchtigt.

     
  • Daten werden nicht ausreichend nach Behinderung oder Migrationsstatus aufgeschlüsselt: Bei der Datenerhebung, zum Beispiel im Rahmen von Volkszählungen, Haushaltserhebungen, administrativen Quellen oder Forschungsprojekten, können Daten zu Behinderungen oder zum Migrationsstatus erhoben werden, jedoch werden diese Daten nicht immer unter beiden Gesichtspunkten (Behinderungen und Migrationsstatus) aufgeschlüsselt.

     
  • Politische Bemühungen erfolgen isoliert: Fragen im Zusammenhang mit Behinderungen und Migration sowie die diesbezügliche Datenerhebung und -nutzung erfolgen oft isoliert in bestimmten Ministerien, jedoch betreffen diese Themen auch andere Handlungsfelder wie Gesundheit oder Bildung.

     
  • Mitunter fehlen Kapazitäten: Nationale Regierungen und andere Stellen mögen daran interessiert sein, Daten über Migranten mit Behinderungen zu erheben, jedoch fehlen ihnen unter Umständen die erforderlichen Fachkenntnisse oder technischen Kapazitäten. Dies kann sich auf alle oben genannten Gründe auswirken, wenn Behörden zum Beispiel nicht wissen, wie Fragen oder Abschnitte zu Migranten und Behinderungen für Volkszählungen und Umfragen konzipiert werden müssen, damit die Daten international vergleichbar sind. So kann es sein, dass Personen, die Erhebungen durchführen, nicht darin geschult sind, Menschen mit Behinderungen zu befragen. Dies kann zur Stigmatisierung beitragen und sich direkt auf die Antworten der Befragten sowie auf die Teilnahmequote auswirken.

     
  • Teilweise fehlt der politische Wille: Politische Entscheidungsträger müssen eine Vielzahl an Themen berücksichtigen. Sie verfügen über begrenzte Ressourcen und ihre Arbeit wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Migration, Behinderungen sowie die Datenerhebung in diesem Zusammenhang haben möglicherweise keine Priorität.  

Wie können Daten über Behinderungen verbessert werden? 

Vor zehn Jahren veröffentlichten die Weltgesundheitsorganisation und die Weltbank erstmals ihren Weltbericht Behinderung und waren somit die ersten Stellen, die eine Prävalenzrate für Behinderungen auswiesen: Dem Bericht zufolge haben 15 % aller Menschen weltweit eine Behinderung. Einige Studien zur Prävalenz von Behinderungen unter Zwangsvertriebenen kamen auf eine Rate von über 15 %. Unter anderem kann sich die Alterung der Bevölkerung auf die Prävalenz von Behinderungen auswirken.Diese wichtige Statistik wurde in der Migrationsforschung verwendet, um die Prävalenz von Behinderungen unter der Gruppe weltweit zwangsvertriebener Personen zu extrapolieren. 2020 gab es schätzungsweise 12,4 Millionen Zwangsvertriebene mit Behinderungen (insgesamt waren etwa 82,4 Millionen Menschen zwangsvertrieben). Diese Zahlen beruhen auf einer Berechnung des Global Migration Data Analysis Centre (GMDAC) unter Heranziehung von Zahlen des UNHCR (2021) und der WHO (2011).

Seitdem wurden bemerkenswerte Fortschritte erzielt, um die Daten im Hinblick auf Behinderungen zu verbessern. Einige dieser Verbesserungen gelten auch für den Bereich Migration. Die Entwicklung eines Kurzfragebogens mit sechs Fragen durch die Washington Group on Disability Statistics (WG-SS) hat entscheidend zur Verbesserung der Erhebung von international vergleichbaren Daten über Menschen mit Behinderungen beigetragen. Der Kurzfragebogen hat sich zu einem international anerkannten Instrument entwickelt, wenn es darum geht, Daten über Menschen mit Behinderungen zu erheben. Er sollte ursprünglich die Datenerhebung zu Behinderungen durch staatliche Stellen unterstützen. Mittlerweile ziehen aber auch nicht-staatliche Akteure diesen Fragebogen heran, zum Beispiel bei der Arbeit mit Migranten und Flüchtlingen. In Zusammenarbeit mit UNICEF entwickelte die Washington Group ein kinderspezifisches Modul, das genutzt wird, um Daten über Behinderungen und minderjährige Migranten zu erfassen.

Auch die Entwicklung von Handbüchern oder Leitlinien hat zur Anwendung des Kurzfragebogens der Washington Group beigetragen und Standards im Hinblick auf den Datenschutz, die Aufschlüsselung, die Erhebung und die Verbreitung von Daten über Migranten mit Behinderungen geschaffen. Im Zusammenhang mit Migration und Behinderungen waren das DTM-Toolkit zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen und die IASC-Leitlinien zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der humanitären Hilfe maßgeblich. 

In den letzten fünf Jahren haben wichtige internationale Initiativen mit dem Ziel, die Datenlage im Hinblick auf Behinderungen zu verbessern, zudem dafür gesorgt, dass solche Daten auch in einem Migrationskontext verwendet werden können. Wichtige Beispiele auf internationaler Ebene sind die Charta zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der humanitären Hilfe, die Inclusive Data Charter der GPSDD, die UN-Inklusionsstrategie sowie die Leitlinien und der Aktionsplan in diesem Zusammenhang.

Trotz der bereits erzielten Fortschritte besteht weiterhin Optimierungspotenzial. Eine engere Zusammenarbeit von Forschenden in den Bereichen Behinderungen und Migration könnte dazu beitragen, das Wissen über Migranten mit Behinderungen zu verbessern und entsprechende Maßnahmen zu unterstützen. Für eine Verbesserung der Datenlage sollten in allen Phasen (Erhebung, Auswertung, Verbreitung und Nutzung von Daten) auch Migranten mit Behinderungen einbezogen werden. Nujeen hat auf Twitter einen passenden Leitspruch gefunden: „Nothing about us, without us [Deutsch: Wer über uns spricht, muss auch mit uns sprechen].“  


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